Helmut Kohl am 3. Oktober 1990 mit seiner Frau Hannelore, umringt von Hans Dietrich Genscher (links) und Bundespräsident Richard von Weizsäcker (rechts). Der Altkanzler ist am Freitag im Alter von 87 Jahren gestorben. Foto: dpa

Kohl hat sich einen guten Namen in der Geschichte verdient, kommentiert unser Chefredakteur Christoph Reisinger.

Stuttgart - „Halle“ heißt ein Acryl-Bild des Malers Rainer Vogt. Es hängt in der Redaktion der Stuttgarter Nachrichten. Es zeigt Helmut Kohl. Und zwar in jener krawallgeladenen Szene, in der der Kanzler am 10. Mai 1991 wutschnaubend an seinen Personenschützern vorbei auf Demonstranten losstürmte, von denen ihn einer in Halle mit Eiern beworfen hatte. Eine einmalige Szene, gewiss – aber typisch für den nun verstorbenen Altkanzler.

Kohls Erfolgsrezept

Typisch, weil sie die ganze Widersprüchlichkeit dieses Vollblut- und Instinktpolitikers auf den Punkt bringt. In seinen Überzeugungen nahezu unverrückbar, in der Verfolgung seiner politischen wie seiner persönlichen Ziele mit außergewöhnlichen Ausdauer- und Nehmerqualitäten gesegnet, war Kohl bis zu seinen späten, von Krankheit überschatteten Jahren zugleich eine umso verblüffendere Spontaneität zu eigen. Wer ihn aus der Nähe erlebte, dem blieben seine Ausbrüche nicht verborgen. Ebenso wenig die ungeheuchelte Freundlichkeit und Zuwendung, die er Menschen zuteil werden ließ, die zufällig seinen Weg kreuzten.

Diese Charakterzüge stehen für Kohls Erfolgsrezept. Er war berechenbar. Und erfüllte damit eine Grundvoraussetzung für Erfolge in der Außenpolitik. Sein größter bleibt es, gegen hartnäckigen Widerstand engster europäischer Verbündeter die amerikanische und die sowjetische Unterstützung für die deutsche Einheit zu gewinnen. Er setzte diese durch, ohne die Einigung Europas zu beschädigen, im Gegenteil. Kohl war aber keineswegs langweilig. Was am Dicken, an Birne – und wie die Schmähtitel für diesen Mann sonst noch lauteten – als Politik des Aussitzens kritisiert wurde, erwies sich häufig als Standfestigkeit. An seiner Deutschland- und Europa-Politik als Hang zum Pathos Belächeltes entpuppte sich im Nachhinein als Überzeugung. Und zwar als die richtige. Das schätzten viele Wähler aus guten Gründen. 16 Jahre Kanzlerschaft kommen nicht von Ungefähr.

Historische Wahrheit

Zu den Widersprüchen in Kohls Persönlichkeit und zur historischen Wahrheit gehört auch dies: Sein Lob bürgerlichen Anstands, sein Bekenntnis zu seinem christlichen Glauben hinderten ihn nicht daran, mit Parteispenden, mit politischen Weggefährten, mit Wahlversprechen unseriös zu verfahren. Aber letztlich misst sich die Größe von Politikern darin, was sie für ihr Land leisten. Daher gebührt Kohl ein Platz unter den Großen in der Geschichte dieser Republik.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de