Schnelle Sprünge, katzenhafte Handbewegungen: Joana de Andrade in Pina Bauschs Stück „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ Foto: Bayerisches Staatsballett

Das Bayerische Staatsballett ist die erste Kompanie, die eines der jüngeren Werke von Pina Bausch aufführen darf. „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ ist eine verspielte Aneinanderreihung szenischer Schnipsel mit tänzerischen Glanzpunkten und erschreckend magerem Inhalt.

München - Wer ist Joana de Andrade? Jetzt, da das Bayerische Staatsballett Pina Bauschs Choreografie „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ aufführt, weiß man es. Die Kompanie hat plötzlich neue Gesichter – Gesichter von Tänzern, die eigentlich schon seit Jahren ihren Dienst im Corps oder als Solisten leisten, nun aber endlich Raum bekommen, um eigene Persönlichkeit zu zeigen. Andrade war bisher immer nur einer der dienstältesten dritten Schwäne von rechts oder in einem Handlungsballett eine „Freundin von“. Seit der jüngsten Münchner Premiere am Wochenende ist sie nun wohl für immer das Mädchen mit dem blauen Rock und den Katzenpfotengesten, das die Bühne bis in den letzten Winkel mit Emotion und Lebenslust ausfüllt. Es dürfte für sie und ihre 13 – für Bausch-Stücke kennzeichnend – praktisch gleichberechtigten Mittänzer schwer werden, wieder zur Routine zurückzukehren. Kein Zweifel, der Geist der 2009 verstorbenen Pina Bausch, deren Tänzer aus der Wuppertaler Kompanie die Parts einstudiert haben mit den Münchnern, hat nun auch mit der Staatsballett-Truppe etwas angestellt.

Teils alberne, teils charmante Ideen zum Miteinander von Männern und Frauen

Dabei ist „Für die Kinder“ inhaltlich erschreckend mager. In einer 160-minütigen Aneinanderreihung szenischer Schnipsel sehen die Zuschauer teils alberne, teils aber auch äußerst charmante Ideen zum Miteinander von Männern und Frauen. Da malt etwa Séverine Ferrolier mit teeniehafter Begeisterung „Hugs“ und „Kisses“ auf den Boden. Zwei Männer springen in einer Art Begrüßungs-Kampftanz aufeinander zu und prallen voneinander ab, oder das ganze Ensemble hopst gemeinsam auf dem Popo über die Bühne. Das ist kindischer Quatsch im wahrsten Sinne des Titels. Andererseits gibt es aber auch Szenen wie die, in der Metteo Dilaghi ein rasantes Ballett mit den Händen entlang seines Körpers vollführt. Genial! Oder die, in der Daria Sukhorukova ihrem Kollegen Jonah Cook ihre Stimme leiht, so dass er als mädchenhaft singendes Bonbon umherwankt.

Mehrmals werden diese Kindereien zu lang ausgewalzt, wiederholen sich dieselben Bewegungen zu oft. Wirklich beängstigend wird es aber, wenn die Frage durch den Kopf schießt, aus welcher Zeit dieses Stück stammt. 2002 feierte es in Wuppertal Uraufführung. War die Welt damals wirklich ganz auf dem allgemeinen Sorglos-Trip? Berechnet man ein, dass der zu nah an der Uraufführung liegende 11. September 2001 wohl keinen Einfluss auf „Für die Kinder...“ mehr haben konnte, bleibt nur der Schluss: Die westliche Welt lebte damals offenbar auf einer Wolke der Glückseligen, auf der das Tanztheater es sich leisten konnte, auf kritische, sperrige Inhalte zu verzichten. Womöglich war der deprimierende Blick auf die Unbedarftheit früherer Tage – neben der langweiligen Bühne aus fahrbaren weißen Wänden – auch der Grund dafür, dass nach der Pause im Nationaltheater ein Haufen Sitze leer blieben. Eine kleine, aber augenfällige Fraktion des Publikums wollte sich der provozierenden Naivität der Vorstellung offenbar nicht länger aussetzen.

So mancher Tänzer präsentiert sich anders als gedacht

Es wird viel geschäkert und gesprochen in „Für die Kinder“, ganz in klassischer Slapstick-Manier. So mancher Tänzer präsentiert sich dabei anders als gedacht. Die süße Marta Navarete Villalba, erst seit Kurzem von der Junior Company ins Corps de Ballet gewechselt, entpuppt sich beispielsweise als Vollblutweib mit rauchiger Stimme. Daria Sukhorukova hingegen gleicht einem Hauch, nicht halb so stark im Sprechen wie in den Fouettés der Paquita und Odette. Pina-Bausch-Stücke lüften manchen Schleier und sind jeder Kompanie wärmstens zu empfehlen. Wenn sie nur so einfach zu haben wären – das Bayerische Staatsballett ist die erste Kompanie, die eines der jüngeren Werke der Choreografin aufführen darf.

Getanzt wird in „Für die Kinder“ allerdings wenig. Was bedauerlich ist. Denn wenn es so weit ist und einer der Protagonisten zum Solo anhebt, dann beben die Wände. Joana de Andrade wird die Gnade solcher Solos zuteil: Im ersten birst sie mit schnellen, kleinen Sprüngen und katzenhaften Handbewegungen schier vor Freude, im zweiten erscheint sie mit tiefen Pliés und weiten Ports-de-bras nachdenklich und in sich gekehrt. Auch Matej Urban fasziniert, wenn er in seinem Solo mit allen Sinnen und Gliedern gen Himmel strebt, und Alexa Tuzil, wenn sie zu Discoklängen ihre ganze Weiblichkeit in Hände, Hüften und Füße legt. Bezaubernde Hebefiguren, in denen die Frauen wie Glücksdrachen mit flatternden Händen auf den Rücken der Männer schweben, vollenden die wenigen tänzerischen Exkurse. In solchen Momenten öffnet sich die Tür in eine andere Welt und das Publikum begreift, warum Pina Bausch ein Mythos sein soll. „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren“, lautet Bauschs berühmtes Zitat. In der Tat retten hier Minuten des Tanzes das ziellose Dasein der Bühnencharaktere.

Bauschs Erbe für München erfordert höchste organisatorische Disziplin

Die größte Qualität von „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ liegt jedoch im Format. Die Fragmenttechnik – die Methode, nicht linear zu erzählen, sondern in Splittern, die gegen Ende locker zu einer Einheit gefasst werden – ist im Kino seit Quentin Tarantino („Pulp Fiction“) fest etabliert. Im Tanz, vor allem im Ballett, ist die Methode dagegen nie richtig angekommen. Das Tanztheater spart sich meist die abschließende Verbindung der Fragmente, neue Ballette bleiben aus Vorsicht linear. Die Münchner Aufnahme von „Für die Kinder...“ beweist, dass man auch auf der großen Bühne erzählen kann, indem man die Botschaft nicht aufbauend „lehrt“, sondern liebevoll einkreist. Eine Methode, die übrigens auch nichts für Anfänger ist: Bauschs Erbe für München erfordert höchste organisatorische Disziplin mit seinen komplizierten Auf- und Abgängen, zahllosen Kostümwechseln sowie Requisitenschiebereien – unter anderem spielen Bürostühle, Schränke, Gießkannen, Mikrofone und Schuhe eine Rolle.

Wer Freude am fliegenden Wechsel hat, wird „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ also lieben. So wie das Münchner Publikum, das sofort nach Ende des Stücks auf die Beine sprang und im Stehen den zutiefst bewegten Tänzern applaudierte, die ob dieses Erlebnisses teilweise Tränen in den Augen hatten.