Prostitution – das bedeutet für viele Frauen ein Leben in Armut und Isolation. Foto: dpa

Armut, Angst und Isolation prägen das Leben vieler Frauen, die sich prostituieren. Der Weg zurück in die Gesellschaft ist hart. Zwei Aussteigerinnen aus Stuttgart berichten.

Stuttgart - Benutzt. Marina (Name von der Redaktion geändert) spricht dieses Wort häufig aus, wenn sie mit fester Stimme von einer Zeit erzählt, die sie lieber niemals erlebt hätte. Marina hat als Prostituierte gearbeitet, fünf Jahre lang. Kraftlos habe sie sich währenddessen oft gefühlt, übermüdet, schambehaftet – und eben benutzt. Von Männern, „für die du nur ein Objekt bist“, wie sie sagt.

Marina stammt ursprünglich aus Norddeutschland, sie hat eine Ausbildung abgeschlossen, aber keine Stelle gefunden. „Ich wollte nicht zum Amt gehen und Hartz IV beantragen. Das war für mich mit Scham behaftet.“ Marina lernte jemanden kennen, der sich prostituierte und sie mit den Worten lockte: „Probier’s doch mal – da kannst du richtig viel Geld verdienen.“ Sie probierte es, weil sie aus ihrer finanziellen Notsituation heraus wollte, und rutschte hinein in die Prostitution.

Sie lernte andere Prostituierte kennen, die ihr erzählten, dass man in Süddeutschland viel besser verdienen könne. „Von da an war ich quasi Wanderhure“, erzählt die Frau, die heute Anfang 40 ist. Sie arbeitete in verschiedenen Städten, darunter auch Stuttgart, in Österreich und der Schweiz. Sie war nie lange an einem Ort, sondern Woche für Woche woanders. Denn die Freier möchten regelmäßig neue Frauen. Marina prostituierte sich in Laufhäusern, Terminwohnungen und Domina-Studios. Doch das große Geld, das man ihr anfangs versprochen hatte, blieb aus.

“Du fühlst dich wie Dreck“

Auch Ivana gelangte durch Versprechungen in die Prostitution. „Zu Hause in Rumänien war ich Kellnerin in einem Lokal am Strand. Es war eigentlich alles gut, aber das Geld hat nicht gereicht“, erzählt sie. 19 Jahre alt war die Rumänin, als man ihr gute Arbeit im Ausland versprach und sie nach Deutschland lockte. „Doch auf dem Weg hierher haben sie mir den Pass weggenommen. Ich bin in Stuttgart gelandet und musste mich prostituieren. Ich wollte weg, aber ich konnte nicht. Ich hatte keinen Ausweis mehr, ich konnte die Sprache hier nicht. Ich bin auf die dunkle Seite gerutscht. Ein Albtraum“, beschreibt die junge Frau den Beginn eines fünf Jahre dauernden Martyriums.

„Eine Woche, nach dem ich hier angekommen bin, habe ich mich im Spiegel angeschaut und das Gefühl gehabt, dass alles, was schön an mir gewesen ist, verschwunden war. Das Unschuldige war weg. Du fühlst dich wie Dreck“, sagt Ivana. Was die Prostitution aus ihr gemacht hat? „Ich habe keine Worte, das zu erklären“, antwortet sie und wendet den Blick ab. „Das ist kein Job. Das ist ein Gefühl, als würdest du mehrfach am Tag vergewaltigt werden. Jeden einzelnen Tag wollte ich da raus.“ Die Verzweiflung, die Ivana lange begleitet hat – in ihren Worten schwingt sie noch immer mit.

Drogen, um den Schmerz zu betäuben

Ähnlich traumatisch hat auch Marina ihre Zeit als Prostituierte erlebt: „Ich hatte Selbstmordgedanken. Ich wollte nicht mehr raus auf die Straße gehen, weil ich dachte, dass mir jeder sofort ansieht, was ich mache.“ Irgendwann begann sie Drogen zu nehmen – als Medikament, wie sie sagt, gegen die physischen und psychischen Schmerzen. Ivana kennt das: „Ich habe Drogen genommen, um damit fertig zu werden.“

Doch die Drogen waren letztlich ein weiterer Posten der Dinge, die täglich finanziert werden mussten. Die Tagesmiete im Laufhaus beträgt derzeit in Stuttgart mindestens 130 Euro, berichtet Ivana. Hinzu kommen regelmäßig Kosten für die Fahrt zu neuen Einsatzorten und die Preise für Werbung auf Internetportalen. Für die Freier hingegen gilt Ivana zufolge: „Heutzutage bekommst du für 30 Euro alles.“ Es braucht demnach mindestens fünf Kunden täglich, damit das Geld einigermaßen reicht. „Es gab Nächte, da stand ich auf der Straße und hab mir einfach nur gewünscht, dass noch ein Freier kommt, damit ich was zu essen habe“, sagt die Rumänin.

Mit den Schulden beginnt ein Teufelskreis

So kommt es, dass sich viele Prostituierte im Laufe der Zeit verschulden. Damit beginnt ein Teufelskreis, der den Ausstieg aus der Prostitution extrem schwer macht: „Um die Schulden zu begleichen, prostituieren sich die Frauen wieder – wie sollen sie sonst schnell an Geld kommen“, sagt Rosemarie Roller, Projektleiterin von „Plan P“, einer beruflichen Ausstiegs- und Orientierungsberatung für Frauen des Frauenunternehmens Zora in Stuttgart.

„Manchmal, wenn die Männer ausblieben, haben mir nette Kolleginnen zehn Euro für Essen geliehen“, erinnert sich Marina. Zur Seite legen konnte sie nichts. Einen Tag frei machen, das war nie drin, selbst dann nicht, wenn sie krank war. Viele andere verdienen an der Prostitution der Frauen, auch wenn diese – so wie Marina und Ivana – keinen Zuhälter haben: Es sind diejenigen, die Zimmer vermieten, diejenigen, die Internetportale betreiben, auf denen die Frauen potenzielle Freier auf sich aufmerksam machen. „Es geht nur um Geld“, betont Marina. Geld, von dem die Frauen selbst kaum etwas haben. Dennoch hat sie manchmal Männer abgelehnt – wenn sie ihr zu ekelhaft waren. „Dann habe ich doch lieber gehungert, um mir einen Rest Selbstachtung zu bewahren.“

Freier wollen vor allem Oralverkehr

Freier stammen aus sämtlichen sozialen Schichten, berichten Marina und Ivana übereinstimmend. Die meisten von ihnen befänden sich in einer Beziehung. Besonders nachgefragt ist Oralverkehr. „Du bist nur eine Projektionsfläche für die Fantasien, die die Männer sonst nicht ausleben können“, erklärt Marina. „Du musst immer nett und freundlich zu ihnen sein, ihnen das Gefühl geben, dass du Bock auf sie hast – auch wenn das natürlich nicht der Wahrheit entspricht. In dieser Branche ist alles gelogen.“

Zwar fragten viele Freier die Frauen, warum sie sich prostituieren – „aber natürlich interessiert es sie nicht wirklich. Das haben die nach fünf Minuten wieder vergessen“, ist Ivana überzeugt. Zu viel Nähe zu den Männern haben die beiden Frauen immer vermieden. „Das macht dich sonst kaputt“, sagt Marina, und Ivana berichtet von einem „alten Sack“, der sich in sie verliebt und ihr nachgestellt habe.

Ansonsten, sagt sie, habe sie Glück gehabt. Nur einmal habe ihr ein Freier eine Ohrfeige verpasst – „sonst habe ich es immer geschafft, sie rechtzeitig rauszuwerfen, wenn sie aggressiv wurden.“ Trotzdem war häufig Angst im Spiel. „Wenn du um vier Uhr nachts ganz allein auf der Straße stehst und ein Mann dich mitnimmt, weißt du nie, was er mit dir vor hat.“ Ivana kennt Prostituierte, die von Freiern verprügelt wurden.

Eingesperrt

Die Zeit der Prostitution war für Ivana und Marina nicht nur von Angst, Geldsorgen und Drogen geprägt – sie fühlten sich auch sozial isoliert. „Du verlierst sämtliche sozialen Kontakte. Du bist eingesperrt in einem Zimmer und wartest auf Freier“, erzählt Marina. Selbst wenn sie noch Freunde gehabt hätte – was hätte sie den Menschen mit Bürojob schon von ihrem Tag erzählen sollen? „Dass ich heute fünf Männer hatte, die mich bestiegen haben?“ Marina lacht bitter. Sie habe sich die Situation damals oft schön geredet, sich gesagt, dass sie bald rauskomme.

Doch der Ausstieg ist ein harter Weg. „Die meisten der Frauen sind gesellschaftlich so isoliert, dass sie nur noch Milieukontakte haben und auch keine familiäre Unterstützung“, erklärt Rosemarie Roller. Hinzu kommen bei vielen Prostituierten mangelnde Sprachkenntnisse. „Durch die Prostitution hat auch das Selbstwertgefühl der Frauen oft derart gelitten, dass sie sich einen Ausstieg nicht zutrauen. Ihnen fehlt einfach die Kraft. Es müssen so viele Dinge gleichzeitig organisiert, Behörden aufgesucht werden, um einen Neuanfang zu realisieren. Das fängt bei der Wohnung an: Wohin soll eine Prostituierte gehen, wenn sie das Bordell verlässt?“, sagt Roller.

Die Prostitution reißt eine Lücke in den Lebenslauf

Nach fünf Jahren war Marina verschuldet und psychisch völlig am Ende. „Ich hatte alles verloren“, erinnert sie sich. Über eine andere Prostituierte stieß sie zu „Plan P“. „Das war meine Lebensrettung“, sagt sie rückblickend. Rosemarie Roller half ihr ganz konkret, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. „Was willst du denn im Vorstellungsgespräch sagen über die Lücke im Lebenslauf, die die Prostitution hineingerissen hat?“, beschreibt Marina nur eines von vielen Problemen.

Noch immer ist sie in psychologischer Behandlung, um das Erlebte aufzuarbeiten. Dennoch verblassen die Spuren der Prostitution nur langsam, erzählt sie: „Dein Vertrauen ist kaputt – du denkst, jeder Mann da draußen ist ein Freier.“ Ihre Wünsche für die Zukunft sind bescheiden: gesund bleiben, einen normalen Vollzeitjob finden, Teil der Gesellschaft sein.

Leben wozu?

Teil der Gesellschaft sein, das will auch Ivana. Fünf Jahre lang fand sie keinen Weg aus der Prostitution. „Dir fehlt einfach die Perspektive“, sagt sie. „Irgendwann fragst du dich, wozu du überhaupt noch leben sollst.“ Für die junge Rumänin war es schließlich ein ungeborenes neues Leben, das ihr zum Ausstieg verhalf: „Eines Tages war ich schwanger von meinem Freund.“ Sie hatte keine Krankenversicherung, aber sie brauchte einen Arzt. Sie wollte dieses Kind unbedingt. So kam Ivana ins Café La Strada – einer Anlaufstelle der Caritas für Prostituierte in Stuttgart. Dort half man ihr, auszusteigen. „Die Mitarbeiterinnen haben mich zum Amt begleitet, mir eine Notübernachtung gesucht, mit mir Beratungsgespräche geführt und geschaut, dass es mir gut geht“.

Was sie an Hilfe erfahren hat, will Ivana zurückgeben: Heute arbeitet sie als Streetworkerin. „Ich möchte für die Prostituierten jemand sein, der sie versteht. Wir haben fast das Gleiche erlebt. Es ist das gleiche Gefühl, das gleiche Trauma“. Die junge Frau blickt positiv in die Zukunft: „Mir gehts gut, ich bin glücklich. Ich habe meine Wohnung, mein Baby, neue Freunde.“ Sie versucht, das Erlebte hinter sich zu lassen – „auch wenn es immer noch weh tut. Aber jetzt habe ich eine zweite Chance bekommen, ein neues Leben.“ Ivana ist fest entschlossen, etwas aus diesem Leben zu machen.

Prostitution in Stuttgart

1409 Frauen prostituieren sich nach polizeilichen Erkenntnissen in Stuttgart (Stand 2015). 450 Prostituierte sind täglich in der Stadt tätig, fast die Hälfte arbeitet im Leonhards- beziehungsweise Bohnenviertel. Die Zahl der Straßenprostituierten hat sich in den vergangenen Jahren verringert und liegt derzeit bei rund 50 Personen. Verteilt über das gesamte Stadtgebiet gibt es rund 165 Rotlichteinrichtungen, darunter Dominastudios oder Laufhäuser.

Rund 88 Prozent der Prostituierten sind Ausländerinnen, sie kommen insbesondere aus osteuropäischen Staaten. Der Stadt Stuttgart zufolge verfügt die Mehrzahl über keine Berufsausbildung. Armut und Gewalterfahrungen seien fast immer die Gründe für Prostitution.

Café La Strada heißt eine Anlaufstelle für Prostituierte in Stuttgart. Träger ist der Caritasverband. Im „La Strada“ können sich die Frauen aufwärmen, etwas essen oder trinken und sich beraten lassen. Zudem gibt es eine kostenlose ärztliche Behandlung sowie Hilfe beim Ausstieg aus der Prostitution. Aussteigerinnen hilft auch das Projekt „Plan P“ des Frauenunternehmens Zora. Die Teilnehmerinnen werden individuell auf den Arbeitsmarkt vorbereitet. Spenden an das Projekt helfen, den Ausstieg aus der Prostitution auch finanziell zu ermöglichen.