Zwar ist Neymar bei der WM 2018 der am häufigsten gefoulte Spieler, dennoch erntet der Brasilianer massive Kritik für seine Theatralik. Foto: AFP

Die Welt diskutiert über Neymar und fragt sich: Wie bereitet er sich wohl auf seine Rolle als ewig Gefoulter vor? Und ist der Brasilianer reif für den Oscar? Eine Einschätzung unseres Filmkritikers – mit Augenzwinkern, versteht sich.

Stuttgart - Was war das noch vor wenigen Jahren für ein Gejammere in Hollywood: Der edlen Kunst der Schauspielerei drohe das Aus, der Mensch aus Fleisch und Blut habe in Kino und Fernsehen keine Zukunft mehr, werde durch willfährige, gewerkschaftsfreie, alterslose und unfallresistente Pixelgeschöpfe ersetzt. Bald werde, hieß es, noch der größte Charaktermime nur das wunderliche Relikt einer anderen Epoche sein, ein blechernes Schnur- und Dosentelefon unter lauter Smartphones.

Dass es noch nicht so weit gekommen ist, verdanken wir Männern wie Neymar, und wer weiß, vielleicht Neymar allein. Auch bei dieser Fußball-Weltmeisterschaft zeigt der brasilianische Stürmer, wie ein sensibler Mann mit bedingungsloser Hingabe, exzessiver Selbstverschleuderung und tollkühner Risikobereitschaft Qual, Pein, Martyrium und Überwindungswillen in emotionalen Extremzonen weit jenseits des Alltags so intensiv darstellen kann, dass jedem Bildcomputer beim Versuch der Nachahmung die Rechenchips wie Popcorn platzen würden.

Wie ein vom Sandsturm vor sich hergetriebener Dornbusch

Neymar wartet nicht auf großartig geschriebene Drehbuchvorlagen. Er braucht auch keine mächtige Ankurbelung durch Mitspieler. Die bloße Nähe eines nicht einmal besonders engagierten Nebendarstellers genügt, damit er sich in eine mitreißende Interpretation menschlicher Grunderfahrungen wirft: die Zerbrechlichkeit unseres Körpers, die Endlichkeit des Glücks, das Trügerische aller Sicherheiten. Wenn Neymar nach dem Anhauch einer Berührung übers Grün rollt wie ein vom Sandsturm vor sich hergetriebener Dornbusch durch ein Wildwest-Städtchen, wenn er sich krümmt und zuckt, als dringe die gebündelte Energie aller Zuschauer nicht nur im Stadion, sondern weltweit an den Bildschirmen als Stromschlag in seinen Körper ein, mag die Kamera danach die vergleichsweise lahmen Bewegungen des Balls kaum noch betrachten. Selbst die Stuntleute staunen über einen Sturzkampfbomber, der Purzelbäume schlägt, wo sie noch keinen Fuß gehoben hätten.

Solche Kraft kommt nicht von ungefähr, nicht aus dem Augenblick. Neymar muss der Champion des Method Acting sein, ein Mann, der seine Rolle als Gefoulter nie verlässt. Wahrscheinlich geht er keinen Hotelflur vom Aufzug bis zur Zimmertür entlang, ohne sich unterwegs dreimal fallen zu lassen,wahrscheinlich brüllt er unter der Dusche bei jedem Tropfen, als fahre ein Vorschlaghammer auf ihn nieder. In Pressekonferenzen leidet er, als seien Fragen nach seinen Stürzen Blutgrätschen mit Eispickelstollen. Nur den Oscar kann Neymar nach der Logik Hollywoods nicht bekommen. Das wäre zu beschämend für alle anderen Gewinner. Neben ihm wirkten sie wie starre Salzsäulen. Manche Meisterleistung bleibt eben nicht nur auf dem Rasen unbelohnt.