Im Praxissemester begleitet diese Studentin ein Mädchen aus Afghanistan in ein neues Leben – bei dem selbst die Wahl des Weges durch die Stadt bedeutend ist. Foto: Andy Reiner/Sichtlichmensch

Zwangsehen sind in Deutschland zum Glück nur selten, aber es gibt sie. Eine Studentin der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg berichtet von einem Fall aus ihrem Praxissemester beim Wohnprojekt Rosa, der unter die Haut geht: Mala musste mit 14 Jahren die Steinigung ihrer Cousine in Afghanistan mitansehen. Als sich ihr 16. Geburtstag nähert, beschließt das Mädchen zu fliehen.

Mala, die eigentlich anders heißt, war 14 Jahre alt, als sie mit der Familie nach Afghanistan flog. In Kabul holte sie ein Onkel ab und fuhr sie in ein Dorf, etwa eine Autostunde entfernt. Die Eltern hatten eine Familienfeier angekündigt. „Oje, wieder eine Hochzeit“, dachte sich Mala. Aber es war alles andere als eine Hochzeit . . .

Am nächsten Morgen wurde sie von ihrer Mutter auf einen Hügel geführt, wo Männer eine Grube umringten, aus der nur Schultern und Kopf ihrer Cousine ragten. „Schau zu und lerne daraus“, sagte die Mutter. „Sonst bist du die Nächste.“ Dann begannen die Männer, Steine auf die Cousine zu werfen, wieder und wieder. Bevor das 16-jährige Mädchen starb, brach Mala ohnmächtig zusammen. Nur ein böser Traum, dachte sie beim Erwachen am nächsten Morgen. Doch als sie nach ihrer Cousine fragte, sagte ihre Mutter: „Rede nicht darüber.“ Und da wusste Mala, dass sie fliehen musste.

Frauen haben kein Recht auf ein eigenes Leben

Wir sitzen auf einem Teppich in ihrem Zimmer sitze, als Mala vom Schicksal ihrer Cousine erzählt. Die Adresse in Stuttgart ist geheim, es steht kein Name an der Tür. Seit Monaten muss sich Mala verstecken, denn ihr droht dasselbe Ende wie ihrer Cousine. Sie ist zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, wurde aber in afghanischer Tradition erzogen, die Frauen das Recht auf ein Eigenleben abspricht.

Die Frauen im Wohnprojekt Rosa verarbeiten ihre Erlebnisse auch in Zeichnungen. / privat

Wie fremd sich das für mich anhört, wie anders bin ich aufgewachsen? Meine Mutter ist Mexikanerin, mein Vater Deutscher. Ich wurde behütet und fühlte mich doch frei, meinen Weg zu gehen. Heute studiere ich Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg und mache seit sechs Monaten mein Praxissemester bei Rosa, einem Wohnprojekt der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart. Es dient als Zuflucht für Migrantinnen zwischen 16 und 21 Jahren, die in ihren Familien missbraucht oder misshandelt werden. Oder denen eine Zwangsheirat droht. Sie werden hier versteckt, bis sie gelernt haben, selbstständig zu leben, unterstützt von Therapeuten und Sozialarbeiterinnen.

Mala zieht sich heimlich im Fahrstuhl um

In meiner ersten Woche gehe ich mit Mala shoppen. So was hat sie noch nie gemacht. Bisher wurde ihr vorgeschrieben, was sie zu tragen hatte. Auf dem Weg zur Schule zog sie sich deshalb heimlich in einem Fahrstuhl um: knöchellange Kleider runter, Schleier weg, Hose an. Heute darf sie allein entscheiden, was sie anziehen möchte. Wirklich? Fragend schaut sie mich an. „Such dir aus, was du willst“, sage ich. Sie tut es zögernd, aber bald weiß sie, was sie möchte. Wir verlassen zwei Läden mit vollen Tüten: Kopftücher und bodenlange Kleider sind nicht dabei.

In der Wohngruppe breitet sie alles auf dem Bett aus und streichelt die Stoffe. Dann rutscht sie auf den Teppichboden und erzählt von ihrer frühen Kindheit, als ihre Eltern noch nicht so radikal waren. Aber Verwandte machten Druck: Warum geht Mala zur Schule? Warum lasst ihr sie denn mit Jungs reden? Sie selbst fragte sich: Warum dürfen meine Brüder raus und ich nicht? Warum dürfen nur sie Freunde haben, mit Mädchen reden und ein Handy besitzen? Warum geht nur mein Vater raus in seinen kleinen Laden mit gebrauchtem Elektrozeug? Und die Mutter bleibt immer zuhause?

„Nichts davon steht im Koran“

„Wir haben oft im Koran gelesen“, erinnert sich Mala zurück. „Mir gefällt, was drinsteht. Die Religion gibt mir bis heute Halt.“ Da stehe allerdings nichts davon, dass Frauen sich verstecken müssen, nur mit ihrem Mann rausgehen dürfen und immer hinter ihm laufen müssen: „In unserem afghanischen Dorf heiratet man untereinander und möglichst Verwandte. Nichts davon steht im Koran.“

In Afghanistan herrscht ein anderes Frauenbild. Recht gibt es kaum. /C. Pueschner/Zeitenspiegel

Mala war zehn, als sie hörte, wie der Vater ihre 14-jährige Schwester mit einem Cousin verlobte. Als der Onkel fragte, welchen seiner Söhne er für Mala haben möchte, krabbelte sie unter den Tisch und zog den Telefonstecker, um das Gespräch zu beenden: „Ich dachte, das rettet mich.“ Stattdessen durfte sie wochenlang nicht zur Schule gehen und erfuhr, dass sie bereits einem 16 Jahre älteren Cousin versprochen war. Zwei Jahre später wurde ihre Schwester verheiratet. „Du bist die Nächste“, wurde ihr gesagt, da war sie gerade mal 12 Jahre alt.

Die Schläge der Eltern werden härter

Zurück in Deutschland begann Mala, zu rebellieren: „Das Verhältnis zu meinen Eltern wurde katastrophal. Sie kontrollierten mich Tag und Nacht, kamen in die Schule, um zu prüfen, welche Kleidung ich trug und ob ich neben Jungs sitze. Zuhause schlugen sie mich. Nahmen mir meinen Pass weg, damit ich nicht abhauen konnte.“ Die Verwandtschaft machte Vorwürfe – sie hätten ihre Tochter nicht im Griff. Die Schläge wurden härter. Als sie ein blaues Auge hatte, durfte sie wochenlang nicht in die Schule. Als sie wieder durfte, sprach die Lehrerin sie auf ihre Fehlzeiten an: „Da fing ich an zu weinen und erzählte ihr alles.“

Die Lehrerin informierte den Schulleiter. Eine Sozialarbeiterin wurde einbezogen, die Mala beriet: „Ich sollte Pro- und Kontralisten führen, um mir über meine Situation klar zu werden.“ Bei Pro schrieb sie auf, was für eine Flucht sprach: „Ich darf mein Leben leben, Entscheidungen treffen. Ich darf zur Schule gehen und muss nicht nach Afghanistan und einen fremden alten Mann heiraten. Ich darf Eis essen gehen, vielleicht einen Jungen treffen. Und ich darf studieren.“

Auf die Kontra-Seite schrieb sie, dass sie alles hinter sich lassen müsse: Eltern, Geschwister, beste Freundin. Sie dürfe nichts von zuhause mitnehmen. Sie müsse einen neuen Namen annehmen, eine Geschichte für sich erfinden, ihre Social-Media-Kanäle und Kontakte löschen.

„Ich muss damit rechnen, dass sich mich umbringen“

Nachdem sie sich entschieden hat, zu fliehen, bekommt sie ein Handy für Notfälle, das sie unter ihr Bett klebt. Als ihr 16. Geburtstag naht und damit der Tag, an dem sie in Afghanistan verheiratet werden soll, ist der Zeitpunkt gekommen. „Ich hatte die Nacht davor keine Sekunde geschlafen, hatte Angst, fühlte mich erleichtert und auch überfordert. Ich schlich mich durch den Hinterausgang aus der Schule, vor der eine Mitarbeiterin vom Jugendamt wartete.“

Bei der Aufnahme in eine amtliche Obhut ihres Wohnorts wird sie gefragt, was sie ihrer Familie zutraut. Würde man sie suchen? Womöglich mit einem Privatdetektiv? Besitzt jemand in ihrer Familie Waffen? Würde man über Soziale Medien nach ihr fahnden? Mala weiß es nicht. „Ich wusste nur, dass ich damit rechnen muss, dass sie mich umbringen, wenn sie mich finden.“

Eigene Entscheidungen zu treffen hat Mala nie gelernt

Mit einem kleinen Koffer tritt sie drei Monate später die erste Zugfahrt ihres Lebens an, quer durch Deutschland ins Unbekannte. Als sie am Stuttgarter Bahnhof ankommt, wird sie von Rosa-Betreuerinnen empfangen. Wieder fremde Frauen, die sie an einen fremden Ort führen. Neue Mitbewohnerinnen, Betreuerinnen, Hausregeln. Mala bekommt ein Zimmer und ist erschöpft. Dennoch muss sie nun mit den Sozialarbeiterinnen eine Schutzgeschichte erarbeiten, mit der sie ab jetzt leben wird.

In der zweiten Woche hat sie bereits einen Schulplatz in einer 10. Klasse. Sie lernt gern und holt in kurzer Zeit den Stoff nach. Es fällt ihr aber schwer, eigene Entscheidungen zu treffen: „Hab ich ja nie gelernt. Mir wurde immer alles vorgeschrieben.“ Nun darf sie mit mir durch die Stadt ziehen. Ich erlebe, wie Mala lernt, ihre Meinung zu äußern. Es sind oft kleine Entscheidungen. Gehen wir über die Königstraße oder zum Marktplatz? Nehmen wir die Straßenbahn?

Die Mädchen finden eine neue Rolle für sich. /privat

„Hast du dich nicht gewundert, dass niemand dein Drama sieht, und dich da rausholt?“, frage ich sie, während sie die Dusche schrubbt und ich das Waschbecken. Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe gelächelt, mich verstellt und gute Noten geschrieben“, sagt sie. „Jeder dachte, ich bin das brave, schüchterne Mädchen. Keiner merkte, wie es in mir drin aussah.“ Am Anfang habe sie diese Wut vorangebracht, aber irgendwann nicht mehr: „Ich habe verstanden, dass sie keine schlechten Menschen sind. Sie haben mich schlecht behandelt, schlugen und bedrohten mich. Irgendwann glaubte ich, mein Leben sei nichts wert, ich sei überflüssig. Aber sie wussten es wohl nicht besser.“ Mala möchte das Muster durchbrechen. „Wenn ich selbst Kinder habe, werde ich es anders machen.“

Die Mädchen halten Zwangsehen oft für normal

„Die jungen Mädchen haben jahrelang verinnerlicht, dass sie einer klassischen traditionellen Mädchenrolle entsprechen müssen“, erklärt Aischa Kartal, Sozialarbeiterin und seit fast 20 Jahren bei Rosa, sie leitet das Wohnprojekt. Manche haben Suizidgedanken. Die allerwenigsten gehen wieder in ihre Familien zurück. Dennoch: Rosa arbeitet für die Mädchen, aber nicht gegen die Familie. Am Anfang wird der Kontakt abgebrochen, aber wenn der Wunsch besteht, ihn wieder aufzunehmen, gibt es in Einzelfällen eine vorsichtige Kontaktaufnahme.

„Es ist aber auch bewegend, zu erleben, wie sie ihre Rolle aufbrechen“, so Kartal. Die Mädchen erfahren, dass sie Rechte haben, die ihnen unabhängig von Religion, Ethnie, Geschlecht oder Nationalität per Geburt zustehen: „Die Mädchen wissen nicht mal, dass Zwangsehen eine Verletzung der Menschenrechte sind. Sie denken, die sind normal.“ Sie verlassen ihre Opferrolle, auf die sie in der Familie reduziert wurden. Mala etwa möchte einmal Sozialarbeit studieren. „Wir erleben, wie sie erwachsen werden, einen Abschluss schaffen oder eine Ausbildung beenden – das sind wunderbare Momente.“