Der junge Programmierer Stefan (Fionn Whitehead) wird langsam paranoid. Foto: Netflix

Die Netflix-Serie „Black Mirror“ hat viele Fans. Die interaktive Langepisode „Bandersnatch“ aber, bei der die Zuschauer den Fortgang der Handlung bestimmen, ist ein innovativer Meilenstein.

Stuttgart - Sobald am Morgen der Wecker rappelt, geht es los mit dem täglichen Entscheidungsterror: Die grüne Bluse oder lieber der Mohairpulli? Den Chef forsch um eine Gehaltserhöhung bitten oder doch besser kleine Brötchen backen? Wir machen es uns nie wirklich klar, doch jede Entscheidung, sei sie noch so banal, bestimmt unsere Zukunft, jede nicht getroffene ebenso. So türmt der Mensch im Lauf seines Lebens ein Universum möglicher Parallelrealitäten seiner eigenen Existenz auf. Ein Meer von Chancen, das sich im Nachhinein nicht erforschen lässt, denn die Zeit verläuft linear und ist begrenzt, trotz Albert Einsteins Relativitätstheorie.

Wer sich aber ernsthaft mit dem komplexen Thema der Entscheidungsvielfalt auseinandersetzen will, braucht Kenntnisse der Mathematik, Physik und Philosophie. Dem Laien bietet nun der Streamingdienst Netflix im Rahmen eines irrwitzig spannenden Filmexperiments namens „Black Mirror: Bandersnatch“ die Gelegenheit, sich auf unmittelbare Weise dem vertrackten Komplex anzunähern.

Das Leben bietet Alternativen – und wie!

Im Zentrum des interaktiven Krimidramas, das der Zuschauer allein mit zwei Tasten seiner Fernbedienung in die jeweils gewünschte Richtung dirigiert, steht Stefan Butler (Fionn Whitehead, „Dunkirk“), ein junger Computerspielentwickler, der im Jahr 1984 – eine Anspielung an Orwells berühmte Dystopie – mit seinen innovativen Ideen Aufsehen bei der Softwarefirma Tuckersoft erregt. Damals steckt die Technologie noch in den Kinderschuhen, doch der exzentrische Tuckersoft-Guru Colin (Will Poulter, „Maze Runner“) weiß, was Kids an den Rechner fesselt.

Der Neuling Stefan hat auf Basis des Text-Abenteuers „Bandersnatch“ ein Szenario entwickelt, das dem Spieler innerhalb einer Haupthandlung mehrere Entscheidungsoptionen bietet. Wählt man eine aus, läuft ein an die Entscheidung gekoppelter Ereignisstrang ab. Eine andere bedingt wiederum einen alternativen Fortgang. Diesem Prinzip folgt auch der Film: Von Anfang an bestimmt der Zuschauer per Knopfdruck, wie sich Stefan im Verlauf der Handlung entscheidet. Die ersten Auswahlmöglichkeiten zwischen zwei Sorten Frühstücksflocken und zwei Musikkassetten bleiben noch folgenlos. Doch als Stefan bei Tuckersoft unter Vertrag genommen wird und es um die Frage geht, ob er sein Spiel unter den Fittichen der Firma oder als Freelancer zuhause fertigstellen soll, nimmt die Geschichte Fahrt auf und der Entscheidungsdruck für den Zuschauer zu.

Fünf Stunden Material

Schließlich ist Stefan auch kein normaler Teenager, sondern schwer traumatisiert, noch dazu allein gelassen mit seinem überfürsorglichen Vater und einer zuweilen gruselig verständnisvollen Therapeutin. Je tiefer man in „Bandersnatch“ eintaucht, desto mehr erfährt man über die möglichen Hintergründe von Stefans in jüngster Kindheit wurzelndem Trauma. Die Macher des Films, der Autor Charlie Brooker und der Regisseur David Slade, haben etwa fünf Stunden Material produziert. Je nach Entscheidung des Zuschauers läuft die kürzeste Variante von „Bandersnatch“ über etwa vierzig, eine durchschnittlich lange über etwa neunzig Minuten ab.

Dass das Publikum nicht bloß passiv einer Erzählung folgt, sondern sie direkt beeinflusst, ist schon ein großer Wurf, so fordernd dieser aktive Part manchem erscheinen mag. Wirklich bahnbrechend erweist sich das Experiment aber in seiner Vielschichtigkeit und der intelligenten Bezüge, die Brooker und Slade herstellen. So spielt der Titel auf eine Figur aus Lewis Carrols Gedicht „Jabberwocky“ an – und wie in dessen Roman „Alice hinter den Spiegeln“ kann auch Stefan durch eine silberbeschichtete Scheibe in seine Vergangenheit steigen. Eindrucksvoll denkt der Film auch über die Vorstellung eines freien Willen nach, denn irgendwann begreift Stefan, dass er von einer fremden Macht gelenkt wird. Der Moment, in dem die Filmfigur seinen Beweger vor der Mattscheibe anspricht und ihn zur Reaktion zwingt, ist ein schaurig-schöner Moment.

Wer erfahren will, wie es sich anfühlt, wenn zwei Realitäten zu einer verschmelzen, sollte sich „Black Mirror: Bandersnatch“ nicht entgehen lassen.